Donnerstag, 8. April 2010

Wenn die Heiligen Ausgang haben - Zehntausende kommen zum Tempelfest


Madras/Mylapore. Zehntausende von Menschen drängen sich wie Ameisen um den Kapaleeswarar Tempel in Mylapore. Hunderte von Bussen und Zügen haben sie aus dem Umland von Madras dorthin gebracht. Jedes Jahr werden dort die 63 Heiligen des Shiva-Tempels beim Arupathumoovar Festival durch die Straßen getragen.

Ich spüre einen deutlichen Druck gegen meinen Rücken, kleine Hände, die mich nach vorne schieben wollen. Keine Chance, denke ich, und will mich gerade bitterböse beklagen, als ich mich umdrehe und eine kleine blinde Frau hinter mir entdecke. Eigentlich wollten wir nur kurz mal um die Ecke uns den Kapaleeswarar Tempel anschauen und sind dann unversehens mitten in eine Prozession geraten. Es geht nicht vorwärts und nicht rückwärts, vor uns Tausende und hinter uns hat sich die Menschenflut bereits geschlossen. Wir scheinen die einzigen Europäer zu sein und begeistert lächeln uns junge Frauen in glitzernden Saris und niedliche Kinder zu, Männer wollen uns die Hand geben.

Kameras überwachen das Geschehen

Belustigt und sehr neugierig warten wir, wie sich das Chaos auflösen wird. Der Menschenstrom gerät wieder in Bewegung und vor uns entdecken wir buntgeschmückte Tragebaren mit den indischen Heiligenfiguren, auf denen Priester in weißem Tuch gekleidet hocken und heilige Asche an die Gläubigen austeilen. Die Träger dürfen ein wenig ausruhen, trinken Wasser aus Plastikflachen und lachen über irgend einen gelungenen Witz des Nachbarn.


Polizisten und Sicherheitsleute, darunter auch junge Frauen in Uniform, regeln den "Verkehr" und weisen rechtzeitig auf kleine brennende Opfergaben hin, die auf der Straße verglühen. Ein System von Kameras überwacht das Geschehen. Ein verlorengegangener kleiner Junge, so erfahre ich später, wurde dank der Kameras entdeckt und konnte seiner Mutter unbeschadet wiedergebracht werden.

Straßenhändler, die überall ihre Stände aufgebaut haben, bieten von Haushaltswaren über Götterstatuen alles feil, was ein indischer Haushalt braucht. Die Läden entlang des Prozessionswegs haben derweil geschlossen und ihre Besitzer sitzen bequem vor den Eingängen und genießen die Aussicht. Auch auf den Balkonen der umliegenden Häuser haben sich ganze Familien postiert, um dem Ereignis aus erhöhter Position beizuwohnen.

Gratis Snacks für alle

Vor uns einer der vielen Stände, wo man sich kostenlos etwas zu Essen holen kann. Davor türmen sich bereits die benutzen Pappteller, ökologisch korrekt aus recyceltem Material, aber Papierkörbe scheint es nicht zu geben. Auch hier keine Chance zum Durchkommen, das Gedränge ist einfach zu groß. Anders als die einstigen britischen Kolonialherren kennt man hier das berühmte Queueing nicht. Statt sich brav in eine Schlange zu stellen, drängelt sich jeder sofort vor, sobald eine Lücke entsteht.

Vor uns liegt jetzt der schön-kitschig bunt beleuchtete Tempel, dessen Architektur um die 300 bis 400 Jahre alt sein soll. Das erste Tempelgebäude wurde bereits im 7. Jahrhundert errichtet, benannt nach Kapaleeswarar, so der Name einer Erscheinungsform des Gottes Shiva. An ein Reinkommen ist nicht zu denken. Müde geworden durch den Trubel und der lauten Musik, beschließen wir so schnell wie möglich nach Hause zu gehen, doch auch hinter dem Tempel ein Ozean von Gläubigen, darunter vereinzelt Christen und Muslime. Sie haben es sich nicht nehmen lassen, das Fest zu besuchen, insbesondere, wenn ihr Ehepartner Hindu ist.

Besucher kommen im Familienverband

Jetzt werden wir doch etwas ungeduldig, die Hitze um 10 Uhr abends ist immer noch unerträglich und Durst haben wir auch. Da hinten ein Lichtblick. Ein großes Schild weist auf einen S-Bahnhof hin. Immerhin hat Madras zwei S-Bahn-Linien. Der Eingang verschluckt die meisten der Besucher, die in Familienverbänden von zehn oder noch mehr Personen gekommen sind.

Wir haben uns ein wenig verirrt, aber zum Glück fahren überall die Auto-Rickshaws, die ihre Dienste uns als Ausländern auf Schritt und Tritt anbieten.
Am nächsten Tag lese ich, dass irgendwo in Indien bei einem Tempelfest 200 Menschen totgetrampelt wurden. Nicht bei uns in Madras, aber vorstellen konnte ich es mir schon.

Text: Senya Müller, Fotos: The Hindu